«Ich reise erst wieder nach Belarus, wenn die Diktatur vorbei ist»

Man sei entweder für oder gegen das Regime, sagt die in Bern lebende Weissrussin Lana Disler. Die Schweiz solle sich den neuen Sanktionen der EU anschliessen.

Interview mit Lana Disler in der Schweizer Tageszeitung „Der Bund“ vom Samstag, 12. Juni 2021.

Das sogenannte Interview mit dem weissrussischen Oppositionellen Roman Protassewitsch hat die Welt erschüttert. Wie verstehen Sie sein «Geständnis»?

Was heisst verstehen? Ich war noch nie in einer ähnlichen Situation. Niemand hat das Recht, ihn zu verurteilen. Was da als Interview verkauft wurde, ist unerhört.

Haben Sie das ganze «Interview» gesehen?

Nein, ich sehe nicht gerne Folterszenen. Protassewitschs Anwalt hatte ihn zuvor eine Woche lang nicht gesehen, und plötzlich kommt dieses «Interview». Alle sind sich einig, dass dies ein Zeugnis der Verbrechen von Alexander Lukaschenko ist.

An wen richtet sich diese Inszenierung?

An die Leute in Belarus, die keine klare Position haben. Ich glaube nicht, dass deren Zahl gross ist. Aber es gibt viele, die sich nicht trauen, ihre Meinung zu äussern. Für mich ist klar: Eine neutrale Position kann man heute nicht mehr einnehmen. Man ist entweder für oder gegen das Regime.

Wer sind denn die Wählerinnen und Wähler Lukaschenkos?

Das sind Leute, die entweder völlig unkritisch sind oder vom Regime auf irgendeine Weise profitieren.

Die EU und die USA haben rasch Sanktionen verhängt. Manche sehen darin eine Art Wende, wie der Westen mit dem Regime umgeht.

Das ist auch in Belarus selber spürbar. Viele politische Gefangene haben jüngst das Angebot erhalten, ein Gnadengesuch zu stellen – mit der Aussicht auf Freilassung. Zugleich werden aber nach wie vor jeden Tag neue politische Gefangene gemacht und Urteile gegen Regimekritiker ausgesprochen. Das Ausmass der Repression hat enorm zugenommen. Zurzeit gibt es rund 500 politische Gefangene. So viele wie noch nie.

Hat auch die Schweizerin Natallia Hersche, die zu über zwei Jahren Haft verurteilt wurde, die Möglichkeit eines Gnadengesuchs erhalten?

Vermutlich schon. Aber sie hat schon früher gesagt, dass sie nicht um Gnade bitten werde. Sie hat es ihren Angehörigen sogar verboten, ein solches Gesuch für sie zu stellen. In manchen Kommentaren in der Schweiz war zu lesen, sie sei selber schuld, weil sie nach Belarus gereist sei. Diese Kommentare haben mich überrascht. Sie sind Ausdruck einer falschen Logik, weil damit das Unrecht in Belarus akzeptiert wird.

Warum lehnt Frau Hersche ein Gnadengesuch ab?

Weil sie ihre Verurteilung als willkürlich und unrechtmässig ansieht. Man kann die Inhaftierten aber verstehen, die nun um Gnade bitten. Die Bedingungen in den Gefängnissen sind unmenschlich.

Warum wird gerade jetzt die Möglichkeit eines Gnadengesuchs gegeben?

Das hat schon auch mit den Sanktionen der EU und der USA zu tun. Bereits im Herbst gab es nach der Unterschlagung der Proteste gegen die Wahlfälschungen Sanktionen gegen Exponenten des Regimes und gegen staatsnahe Unternehmen. Die neuen Sanktionen, vor allem jene der USA, sind aber sehr streng.

Hersche hat bei den Protesten nach der Wahl wohl gedacht, der Moment sei gekommen. Wieso kam er nicht?

Es gab bereits früher viel Protest. Aber die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen waren für viele zum ersten Mal mit einer grossen Hoffnung auf Wandel verbunden. Viele Belarusinnen und Belarusen in der Schweiz dachten, sie würden gleich ins Flugzeug steigen können, um in Minsk zu feiern. Ich kann nicht sagen, warum es nicht so weit gekommen ist. Die Leute vor Ort entscheiden, wozu sie bereit sind. Natürlich wollte ich auch nach Belarus reisen wie Frau Hersche. Aber ich kann aus familiären Gründen nicht weg.

Warum hat die Opposition nie zu Gewalt gegriffen wie einst in der Ukraine?

Man will zeigen, dass man anders ist als das Regime. Ob es zum Erfolg führt, kann ich nicht sagen. In der Ukraine hat es trotz Aufstand von Ende November 2013 bis Ende Februar 2014 gedauert, bis der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch geflohen ist. In Belarus ist die Hoffnung gross, dass ein schwarzer Schwan kommt und irgendetwas passiert, damit alles gut wird.

Was sollte die Opposition jetzt tun?

Das ist schwer zu sagen. Die Gnadengesuchsoffensive des Regimes zeigt, dass die westlichen Sanktionen gegen die wichtigsten Unternehmen funktionieren. Aber ein Regimewechsel kann nicht von aussen kommen.

Die Entführung Protassewitschs hat gezeigt, dass auch im Ausland niemand sicher ist. Haben Sie keine Angst?

Wenn ich in der Schweiz Angst haben müsste, was gälte dann für die Menschen in Belarus? Ich bin nicht so wichtig, als dass meine Angehörigen bedroht und erpresst würden, auch wenn meine Mutter von der Polizei besucht wurde. Ich habe mich zudem entschieden, erst wieder nach Belarus zu reisen, wenn die Diktatur vorbei ist.

Wie lange müssen Sie da warten?

Ob es Wochen, Monate oder ein Jahr dauert, weiss ich nicht. Ich habe meine Familie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.

Warum halten Sie sich für «nicht so wichtig»?

Wenn es eine Liste von regimekritischen Menschen gibt, steht mein Name sicher nicht zuoberst. Es gibt im Ausland viele Personen, die Lukaschenko als persönliche Feinde betrachtet. Meinetwegen wird kein Flugzeug vom Himmel geholt.

Was wollte die Polizei von Ihrer Mutter?

Sie haben nach mir gefragt. Es war nach einer Kundgebung des belarusisch-schweizerischen Vereins Razam mit 150 Personen und Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja letzten März in Genf, an der ich auch teilgenommen hatte. In dieser Zeit hat das Regime den Beobachtungsfokus von der Exilopposition auf die kritische belarusische Diaspora als Ganzes ausgeweitet.

Wie haben Sie Frau Tichanowskaja erlebt?

Wir sind gleich alt. Aber was sie im letzten Jahr alles erlebt hat, ist für mich unvorstellbar. Sie ist das Gesicht der demokratischen Bewegung, und ihr Mann ist seit mehr als einem Jahr im Gefängnis. Die Erwartungen an sie sind gross. Sie steht unter einem enormen Druck.

Sie hat sich zur Kandidatur entschlossen.

Damals konnte sie wohl kaum abschätzen, was geschehen würde. Sie hat nicht geglaubt, dass sie überhaupt als Kandidatin zugelassen wird. Das hat die Wahlkommission wohl nur gemacht, um sich über sie lustig zu machen.

Ist sie die gewählte Präsidentin?

Ja. Ich war Teil einer Gruppe, welche die Leute vor dem Wahllokal in der belarusischen Botschaft in Muri befragt hat. Das war eine weltweite Aktion belarusischer Migranten. Es war sehr heiss, und wir standen von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends da. Die Zahlen waren deutlich, nicht nur in Bern, auch in anderen europäischen Hauptstädten wie ja auch in Belarus selber. Die Botschaft in Muri hat zwei Tage später ein Protokoll veröffentlicht, das mit unseren Umfragen in etwa übereinstimmte: 84 Prozent der Wählenden in Bern haben sich für Tichanowskaja ausgesprochen.

Blieben Sie vor der Botschaft unbehelligt?

Es gab bloss Bemerkungen der Botschaftsmitarbeitenden, es würden sich zu viele Leute ansammeln. Aber es war ja nicht unsere Aufgabe, für Ordnung zu sorgen.

Die EU wird ihre Sanktionen womöglich noch verschärfen. Die Schweiz hält sich zurück. Ärgert Sie das nicht?

Ich bin eher erstaunt. Die Schweiz war bei den Sanktionen gegen das Regime aber nie der Trendsetter. Sie hat stets versucht, mehr oder weniger neutral zu bleiben. Im Dezember und im März schloss sie sich immerhin zwei Sanktionspaketen an, nachdem Hersche verurteilt worden war. Seither ist nichts mehr geschehen.

Letztes Jahr hat die Schweiz eine Botschaft in Minsk eröffnet. Aussenminister Ignazio Cassis wurde von Lukaschenko empfangen.

Das hat wohl nicht nur die Belarusen, sondern auch viele Schweizer überrascht. Was dahintersteckt, kann man nur vermuten. Im April hat der belarusische Aussenminister die Schweiz besucht.

Der Verein Razam hat nach der Protassewitsch-Entführung Forderungen an den Bundesrat gestellt. Was erwarten Sie?

Der Begriff Forderungen ist etwas übertrieben. Wir möchten, dass die Schweiz bei den EU-Sanktionen mitmacht und alles zur Freilassung von Natallia Hersche unternimmt. Sie ist seit einem Monat in Isolationshaft, und es geht ihr nicht gut. Eine Antwort des Bundesrates haben wir bisher nicht erhalten.

Die Schweizer Wirtschaft investiert kräftig in Weissrussland: Stadler Rail hat eine Fabrik mit 1500 Angestellten, Nestlé schaltet Werbespots.

Das verhörartige Interview mit Roman Protassewitsch wurde sogar durch Nestlé-Werbung unterbrochen.

Ist es nicht stossend, wenn Nestlé den Staatssender unterstützt?

Ja, natürlich. Wir haben Nestlé auch schon geschrieben. Aber sie haben nicht reagiert, wie sie ja auch auf Medienanfragen bisher nicht Stellung bezogen haben.

Wie sollen die Schweizer Firmen auf die Repression reagieren?

Sie könnten klar gegen die Gewalt und die Verhaftungen Stellung nehmen.

Nebst Razam gibt es den Freundschaftsverein Schweiz-Belarus, der von Ex-SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen präsidiert wird. Kennen Sie ihn?

Dieser Verein wurde wohl von der Botschaft mitinitiiert, um politisch-kulturellen Goodwill zu erzeugen. Ich kenne keine Belarusinnen und Belarusen in der Schweiz, die in diesem Verein dabei sind.

Lukaschenko hat Frau Kiener Nellen einen Orden zugesprochen. Sie will sich nicht davon distanzieren, weil sie ihn nicht physisch entgegengenommen habe.

Ich finde es eigenartig, dass Frau Kiener Nellen sich nicht vom Orden distanziert.

Wie standen Sie in Weissrussland zum Regime?

Ich war bis 2012 in Belarus. Damals habe ich studienbegleitend für eine NGO gearbeitet. Wir wollten eine Zeitung für Jugendliche machen. Es gab dauernd neue Anweisungen zur Registration. Es gab kurz ein paar Seiten in einer Lokalzeitung mit eher unpolitischen Texten junger Menschen. Aber jede Organisation, die nicht mit dem Staat verbunden ist, wird als oppositionell angesehen. Die NGO gibt es heute nicht mehr. Die politische Situation war aber nicht der Grund, weshalb ich das Land verlassen habe. Ich habe geheiratet und bin in die Schweiz gezogen.

Wie kam es zu Ihrem Engagement in der Schweiz?

Nebst der Repression rund um die Präsidentschaftswahlen war die Corona-Situation in Belarus ein Auslöser. Das Regime hat Corona lange ignoriert und die Menschen im Stich gelassen. Die Verteilung von Masken und die Betreuung erkrankter Personen wurde weitgehend der Zivilgesellschaft überlassen.

Wie ist die Corona-Situation heute?

Angeblich gibt es Impfmöglichkeiten. Aber die Verteilung ist chaotisch. Jeden Tag werden Zahlen von Infizierten und Toten veröffentlicht, die in etwa gleich sind: 8 bis 10 Tote, rund 800 bis 1000 Infizierte. Die Todesstatistiken des letzten Jahres wurden bisher nicht veröffentlicht. Auch Zahlen sind ein Instrument der Willkür. Unabhängige Statistiken sind verboten.

Haben Sie Heimweh?

Ich vermisse meine Familie und die Freunde.

Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/ich-reise-erst-wieder-nach-belarus-wenn-die-diktatur-vorbei-ist-259690839816
Bernhard Ott, Tamedia