Brief an den Bundesrat zu der aktuellen Lage in Belarus

Forch, 28.05.2021

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Sehr geehrte Frau Bundesrätin,
Sehr geehrter Herr Bundesrat

Wir, Mitglieder des belarussisch-schweizerischen Vereins RAZAM.CH, schreiben Ihnen im Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen in Belarus, die sich direkt auf die regionale Sicherheit in Europa auswirken und die Schweiz als Staat sowie die Schweizer Bürger und Einwohner betreffen.

Entführung eines EU-Flugzeugs und Verknüpfung dieser mit der Schweiz

Am 23. Mai 2021 entführten belarussische Behörden ein nach Vilnius fliegendes Ryanair-Flugzeug und zwangen es wegen einer falschen Bombendrohung zu einer Notlandung in Minsk. Ein MIG-29- Kampfjet der belarussischen Luftstreitkräfte begleitete das Zivilflugzeug zum Flughafen Minsk. Als 126 internationale Fluggäste ausstiegen, wurde der oppositionelle Journalist und Blogger Raman Pratasewitsch von der belarussischen Polizei festgenommen. Der Aktivist wurde zusammen mit seiner 23-jährigen Freundin Sofia Sapega verhaftet. Beide müssen sich nun vor Gericht verantworten.

Nach der Entführung haben die belarussischen Behörden eine Reihe von widersprüchlichen Erklärungen veröffentlicht, in denen sie die palästinensische Organisation Hamas für die falsche Bombendrohung verantwortlich gemacht haben. Alexander Lukaschenka, der ehemalige Präsident, der die Wiederwahl im Jahr 2020 verloren hat, sich aber weigerte, die Macht abzugeben, behauptete in seiner Rede, dass die Bombendrohung aus der Schweiz gekommen sei. Er hat keine weiteren Details genannt, aber andere Beamten haben früher erklärt, dass die Drohung von dem Schweizer Portal ProtonMail stammt.

Situation um politische Gefangenen, darunter die Schweizerin Natallia Hersche. Verfolgung ihrer Familie

Immer wieder erhalten wir besorgniserregende Nachrichten über die belarussisch-schweizerische Doppelbürgerin Natallia Hersche, die wegen ihrer Teilnahme an einem friedlichen Protest im September 2020 eine 2,5-jährige Haftstrafe in einem belarussischen Gefängnis verbüsst. In den letzten Wochen gab es deutliche Hinweise auf den Druck, der gegen Natallia und ihre Familie ausgeübt wurde. Die belarussischen Behörden haben ohne plausiblen Grund den im Mai geplanten Gefängnisbesuch von Natallias Bruder Henadz Kasian abgesagt. Ausserdem wurde am 25. Mai 2021 Henadz‘ Wohnung von der Polizei durchsucht und er wurde darüber informiert, dass er nun ein Verdächtiger in einem Strafverfahren ist. Wir glauben, dass Henadz wegen seiner familiären Verbindungen zu Natallia Hersche ins Visier genommen wird. Wir sind auch besorgt, dass die

belarussischen Behörden versuchen, Natallia psychologisch zu brechen, und dass sie versuchen zu verhindern, dass die Informationen über Natallia und ihr Wohlbefinden an die Öffentlichkeit gelangen und die internationale Gemeinschaft erreichen.
Wir sind auch um Natallias Wohlergehen besorgt, da die harten Bedingungen in belarussischen Gefängnissen und die „besondere“ herabwürdigende Behandlung von politischen Gefangenen allgemein bekannt sind. Letzte Woche ist der 50-jährige politische Gefangene Vitold Ashurak, der wegen der Teilnahme an friedlichen Protesten im Jahr 2020 zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, plötzlich unter ungeklärten Umständen im Gefängnis gestorben – angeblich an Herzversagen.Vitolds Familie sagte, dass er vor seiner Inhaftierung keine gesundheitlichen Probleme hatte.

Massenverhaftungen von unabhängigen Journalisten und Sperrung des führenden unabhängigen Nachrichtenportals

Am 18. Mai 2021 drangen belarussische Behörden in die Wohnungen von Journalisten und Redakteuren des führenden belarussischen Portals TUT.BY ein, das 63% der belarussischen Internetnutzer erreicht. Die Polizei hat auch die Büros durchsucht und den Zugang zur Internet- Ressource blockiert. Am selben Tag wurden das Management und die Journalisten von TUT.BY und anderen Nachrichten- und Hosting-Unternehmen (insgesamt 15 Personen) verhaftet, und sie befinden sich weiterhin im Gefängnis oder im Hausarrest.

Wir betrachten dies als einen direkten Angriff auf die Meinungsfreiheit und einen Versuch, die Verbreitung unzensierter Informationen innerhalb und ausserhalb von Belarus einzuschränken. Nach den Wahlen 2020 wurden Dutzende von unabhängigen Medien geschlossen oder blockiert, und die Behörden verfolgen die verbleibenden Medien und einzelne Journalisten und Blogger weiter.

Andere Themen im Zusammenhang mit Belarus, die die Reputation von der Schweiz betreffen

Wir haben Anfragen zu anderen mit Belarus verbundenen Themen erhalten, die die Schweiz betreffen und die den Ruf der Schweiz negativ beeinflussen könnten, insbesondere nach den jüngsten Ereignissen:

  • Die Schweiz hat sich nicht der Gemeinsamen Erklärung zur Menschenrechtslage in Belarus vom 21. Mai 2021 angeschlossen, die im Namen von 37 OSZE-Teilnehmerstaaten verfasst wurde und in der auf die Verschlechterung der Menschenrechtslage in Belarus hinweist.
  • Die offizielle Boeing 767 EW-01PB der belarussischen Regierung, die in der Regel Lukaschenko und seine Familie transportiert, hat im Mai 2021 etwa zwei Wochen am Flughafen Basel verbracht. Sie wurde zuvor Ende August 2020 (nach den umstrittenen Wahlen und der Niederschlagung der Proteste) am Flughafen Basel gesehen. Die belarussische Seite weigerte sich, die Gründe für die Flugzeug-Präsenz am Flughafen Basel zu erklären.

Allgemeiner Lagebericht

Vor einem Jahr, am 29. Mai 2020, haben die belarussischen Behörden Siarhei Tsikhanouski verhaftet, den Ehemann von Sviatlana Tsikhanouskaya, die daraufhin die Präsidentschaftswahlen 2020 gewonnen hat. Dies war nur der Anfang der weitreichenden Repressionen gegen Opposition. Es folgte ein gewaltiges polizeiliches Durchgreifen, das die Strassenproteste eindämmte und Oppositionsführer ins Gefängnis oder ins Exil brachte. Innerhalb eines Jahres wurden über 30 000 Menschen inhaftiert und über 2300 Strafverfahren gegen die Oppositionelle eingeleitet. Derzeit gibt es in Belarus 426 offiziell anerkannte politische Gefangene. Trotz des Ausmasses wurde das bis vor kurzem von vielen hauptsächlich als ein internes Problem von Belarus angesehen, aber die Situation ist eskaliert und nun ist Lukaschenko auch eine Gefahr für die regionale Sicherheit in Europa.

DAHER FORDERN WIR SIE ZU EINER DRINGENDEN AKTION IN BEZUG AUF BELARUS AUF, UM DIE WERTE DER DEMOKRATIE ZU VERTEIDIGEN, DIE VERFOLGUNG VON BELARUSSISCHEN UND SCHWEIZER STAATSBÜRGERN ZU VERHINDERN UND EINE REGIONALE SICHERHEITSBEDROHUNG ZU VERMEIDEN.

Wir appellieren an den Bundesrat, sich anderen Staaten in folgenden Punkten anzuschliessen:

  • Jeden möglichen politischen Druck auszuüben, um Natallia HerscheRaman PratasevichSofia Sapega und andere politische Gefangene freizulassen und die Verfolgung vonOppositionellen in Belarus zu beenden;
  • Durchführung einer Untersuchung der Flugzeugentführung und der damit zusammenhängenden Umstände mit Beteiligung der Schweiz und anderer Länder , und eine klare Stellungnahme der Schweiz in dieser Hinsicht;
  • Durchführung einer unabhängigen Untersuchung aller gemeldeten Fälle vonMenschenrechtsverletzungen, wobei auch die Sicherheit der betroffenen belarussischen und internationalen Bürger zu gewährleisten ist;
  • Verabschiedung der nächsten Sanktionspakete, die sich gegen Lukaschenko und seinUmgebung richten (die Schweiz ist in dieser Hinsicht hinter die EU und die USA zurück und muss ihren Rückstand aufholen und ihre Sanktionsliste erweitern);
  • Alexander Lukaschenko und seiner Regierung die politische Anerkennung zu verweigern undBelarus, Russland und anderen Regierungen sowie Unternehmen, die mit den belarussischen Behörden zusammenarbeiten oder sie unterstützen, klarzumachen, dass alle mit Lukaschenkos Regierung geschlossenen Verträge ungültig sind und annulliert werden müssen;
  • Die Einbehaltung von Investitionen, Krediten und anderer finanzieller Unterstützung für Initiativen und Projekte der belarussischen Regierung, belarussischer Banken und Unternehmen mit staatlicher Beteiligung, um zu verhindern, dass solche Beiträge für die Finanzierung von Menschenrechtsverletzungen und terroristischen Aktivitäten umgeleitet werden;
  • Die Forderung, dass internationale Unternehmen, und insbesondere Schweizer Unternehmen (wie StadlerFranck Muller und Nestle), die in Belarus geschäftlich tätig sind, ihre Menschenrechtsverpflichtungen einhalten und eine angemessene Sorgfaltsprüfung ihrer geschäftlichen Aktivitäten in Belarus und der Aktivitäten ihrer belarussischen Geschäftspartner durchführen, um sicherzustellen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen mit beitragen;
  • Verstärkte Unterstützung für die belarussische Zivilgesellschaft, unabhängige Medien und verfolgte Aktivisten.

Wir würden es sehr begrüssen, wenn Sie auf die in diesem Brief angesprochenen Punkte eingehen und einen Aktionsplan entwickeln könnten, der über die reine Beobachtung der Situation hinausgeht. Bei Interesse sind wir gerne bereit, unsere Sicht der Lage darzulegen und mögliche Schritte und Massnahmen im Detail zu diskutieren.

Hochachtungsvoll,
Verein RAZAM.CH

Source: Bern.com