Die Geschichte einer gescheiterten Weltmeisterschaft

Am 12. November 2020 verbreitete sich über belarussische Nachrichtenseiten und Telegram-Kanäle die Nachricht: ein junger Mann, Raman Bandarenka, der am Tag zuvor in einem der Minsker Innenhöfe geschlagen und entführt worden war, wurde in einem sehr schweren Zustand im Krankenhaus aufgefunden. Nach einer stundenlangen Operation erwachte er nicht wieder und starb noch am selben Abend. Er war 31 Jahre alt.

In drei Monaten, die seit der Präsidentschaftswahl im August vergangen sind, sind Verprügelungen und Verhaftungen in Minsker Innenhöfen recht häufig geworden. Viele solcher Fälle wurden mit Handys aufgezeichnet und die entsprechenden Videos wurden im Netz weit verbreitet. Solches Videomaterial wurde auch im Fall von Raman Bandarenka gefunden. Als das tragische Finale dieser Geschichte publik wurde, sahen viele Leute die Aufnahmen durch und versuchten, einige der Beteiligten an Bondarenkos Entführung zu identifizieren.

Ihre Bemühungen zeigten ein unerwartetes Ergebnis: Unter Personen, die Bondarenko angegriffen haben, wurde ein Mann gesehen, der Dmitry Baskov, dem Vorsitzenden des belarussischen Eishockeyverbandes und Cheftrainer der Hockeymannschaft von Alexander Lukaschenka, sehr stark ähnelt. Bald tauchten weitere Beweise seiner Beteiligung auf: Telefonaufzeichnungen und Geolokationsdaten von Handys. 16. November verbietet Lettland Dmitry Baskov die Einreise.

Der Fall bildete einen schlechten Hintergrund für das für 2021 geplante große Sportereignis: Belarus und Lettland sollten gemeinsam die Eishockey-Weltmeisterschaft durchführen, was umso wichtiger war, als die Meisterschaft 2020 durch die Corona-Pandemie abgesagt wurde. Aber konnte die Meisterschaft in einem Land durchgeführt werden, in dem Tausende von Menschen ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie versuchten, ihren friedlichen Protest auszudrücken, Hunderte gefoltert wurden und der wichtigste Eishockey-Funktionär in einen politischen Mordanschlag verwickelt war? Wie sich später herausstellte, war Rene Fasel, der Chef des Internationalen Hockeyverbandes, der Meinung, es wäre möglich.

Am 16. November fand die erste Mahnwache vor dem Gebäude der Internationalen Hockey-Föderation statt, organisiert von RAZAM.CH. Die Teilnehmerzahl war aufgrund von Covid-Beschränkungen stark begrenzt, aber die Versammelten brachten ihre Position der Föderationsleitung vor und übergaben Rene Fasel einen offenen Brief im Namen des Vereins. In dem Brief forderten die Mitglieder des Vereins Herrn Fasel auf, die Austragung der Meisterschaft in Belarus abzusagen, und verwiesen dabei auf die zahlreichen Fälle von Gewalt durch Sicherheitskräfte sowie auf die Ergebnisse der Umfrage, die auf der Plattform „Golos“ durchgeführt wurde: die überwiegende Mehrheit der Befragten (ca. 90 %) will die Meisterschaft in Minsk nicht sehen, solange die Gesetzlosigkeit im Lande anhält.

Das Schreiben des Vereins blieb unbeantwortet. Im Dezember erklärte Rene Fasel in einem Interview für die Schweizer Ausgabe Watson.ch: „Wir werden uns nicht zur Geisel der Politik machen lassen. Die Geschichte hat bewiesen, dass der Boykott von Sportereignissen wie den Olympischen Spielen 1980 oder 1984 noch nie funktioniert hat. Sport ist für Menschen geschaffen und bringt Menschen zusammen, und wir haben im Eishockey eine große Tradition, der Politik zu widersprechen und die Völkerverständigung zu fördern.“ In Bezug auf die Position des lettischen Eishockeyverbandes schlug er sogar vor, dass die Meisterschaft nur in Minsk stattfindet, während Lettland seinen Gastgeberstatus verlieren würde.

Bevor er jedoch eine endgültige Entscheidung traf, beschloss Fasel, persönlich nach Minsk zu reisen, um die Situation mit Lukaschenko zu besprechen. Dieser Besuch erwies sich als entscheidend für die Hockey-Weltmeisterschaft. Späteren Erklärungen nach, hoffte Fasel, dass der Besuch ohne große Öffentlichkeits- und Medieninteresse über die Bühne gehen würde Doch Lukaschenko, der sich in letzter Zeit auf die Besuche saudi-arabischer Unternehmer und russischer Gouverneure beschränkte, konnte nicht versäumen, den Besuch eines Weltklasse-Sportfunktionärs zu nutzen, um seine anhaltende Relevanz zu demonstrieren. Die Bilder, die Fasel bei der herzlichen Umarmung mit Lukaschenko zeigen, gingen sofort um die Welt. Zudem veröffentlichte einer der Anwesenden ein Foto auf Instagram, auf dem Fasel persönlich mit Dmitry Baskov posiert, dessen Beteiligung am Tod von Roman Bondarenko dem Internationalen Eishockeyverband bereits bekannt war. Die Welle der Empörung, die in der Schweizer Presse aufkam, ist kaum zu überschätzen: „Eine Schande für das Eishockey, eine Schande für die Schweiz“, kommentierte der Tages Anzeiger die Reise von Fasel nach Belarus.

Fasel beharrte darauf: Er sei missverstanden worden, das Foto sei aus dem Kontext gerissen, und die Weltmeisterschaft in Minsk sei immer noch möglich.

Die nächste Mahnwache vor dem Gebäude des Eishockeyverbandes wurde von RAZAM.CH am 14. Januar 2021 abgehalten, drei Tage nach Fasels Besuch in Minsk. An diesem Tag war es in Zürich ungewöhnlich kalt, es schneite stark. Aber die vielen Demonstrierenden hat es nicht gestört; wegen der pandemiebedingten Beschränkungen konnten nicht einmal alle Interessierten teilnehmen . Die Plakate, die von den Zuschauern mitgebracht wurden, hoben die Sponsoren der Meisterschaft hervor, darunter Nivea, Tissot und Raiffeisen. In denselben Tagen veranstaltete die belarussische Diaspora Mahnwachen vor den Hauptquartieren der Sponsorunternehmen, um ihnen die Frage zu stellen: War das die Art von Werbung, mit der sie gerechnet hatten? Einige Sponsoren, wie zum Beispiel Tissot, wichen aus und verwiesen auf die Rolle des Internationalen Eishockeyverbands bei der Entscheidung über den Austragungsort der Meisterschaft. Am 16. Januar verkündeten jedoch Nivea und Skoda ihre Weigerung, die Meisterschaft in Minsk zu finanzieren, und Liqui Moly schloss sich ihnen bald an. Unter dem Druck der Sponsoren gab der Internationale Eishockeyverband schließlich den Versuch auf, den Status quo aufrechtzuerhalten und verkündete die Verlegung der Weltmeisterschaft aus Belarus.

Wer hat also Alexander Lukaschenko, einem großen Eishockeyfan, sein Lieblingsspielzeug weggenommen? Die Hauptrolle dabei spielten ohne Zweifel seine Verbündeten: Dmitry Baskov und Rene Fasel, die die Aufmerksamkeit der europäischen Presse auf das Geschehen lenkten. Es ist jedoch notwendig, die Aktivität der belarussischen öffentlichen Organisationen, unter anderem der belarussischen Diaspora, zu erwähnen, die erneut ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Koordinierung ihrer Bemühungen untereinander bewiesen haben, um nicht zuzulassen, dass die internationalen Organisationen ihre Augen vor der Gesetzlosigkeit in Belarus schließen.

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